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Selt aber würdig

Der seltwürdige Name dieses Kapitels entstand durch Tmesis

Weitere Seltwürdigkeiten:

Paradoxon

unmöglich:

    “Jedoch das Rot der Ampel überstrahlte
    ihr grüner Mund, der grässlich angemalte.”

(Paradoxon [Paradox]: widersprüchlich; mein Beispiel ist eher eine Hyperbel; hier ein Beispiel aus dem Lazarillo de Tormes, der im ersten Kapitel einem blinden Herrn dient und oft von ihm gezüchtigt wird: “Und daraufhin führte ich ihn immer über die schlechtesten Wege, und absichtlich, um ihm zu schaden und weh zu tun; gab es Steine, dann drüber; wenn Schlamm, dann wo er am tiefsten war; denn, obwohl ich nicht im Trockenen ging, amüsierte es mich, mir ein Auge auszustechen, wenn ich dem, der keines hatte, zwei ausstechen konnte.”)

Lazarillo

“Der Blinde und Lazarillo”, Salamanca


Selbstbezug

Hier steht, versehentlich, ein grünes Wort.

(Selbstbezug [Self-reference]: Lügner-Paradox: „Dieser Satz ist nicht wahr.”; Peter Handke:”Da sitzt etwas auf dem Papïer.”; ↪ auch Krokodilschluss in “Akrobatik”)

Escher

M. C. Escher: Drawing Hands, 1948


Seltsame Schleife

Ich ging dereinst mit grünem Tand
ganz frech bei Rot hinüber.
Prompt fragte mich da ein Passant:
“Was ist passiert, mein Lieber?”

    “Ich ging”, sprach ich, “mit grünem Tand
    ganz frech bei Rot hinüber.
    Prompt fragte mich da ein Passant:
    ‘Was ist passiert, mein Lieber?’

        ‘Ich ging’, sprach ich, ‘mit grünem Tand
        ganz frech bei Rot hinüber.
        Prompt fragte mich da ein Passant:
        ‘Was ist passiert, mein Lieber?’

            ‘Ich ging’, sprach ich, ‘mit grünem Tand
            ganz frech… [etc.]

(Seltsame Schleife [Self-reference + Strange Loop]: Lügner-Paradox: “Dieser Satz ist nicht wahr.”; ↪ auch Oxymoron in “Humor”)

Ouroboros

Theodoros Pelecanos: (Ouroboros)

Wortzerschneidung

Tmesis

Ob giftig gleich sein grelles Grün
wollt an ich mir das Hemd heut ziehn
(doch wär mir aller Gelb dings lieber…).
Bei Rot schritt ich die Straße über.


An hatte ich ob grün
ein Hemd mir gleich gezogen,
bin ab sofort gebogen,
dem Rot noch ent zu fliehn.

(Wortzerschneidung, Zer Wort schneidung; auch der seltsame Name dieses Kapitels, “Selt aber würdig”, ist Resultat dieser Figur

(aus dem Struwwelpeter)
(Konrad, den armen Daumenlutscher, habe ich hinausgeschnitten)

hier noch ein weiteres Beispiel von mir selbst:

             Ein Blöder und ein Hund

(tmesische Lyrelei von Rolf und Peter)

‘s war mal ein Blöder und ein Hund,
der kunterte gar allzu bunt
mit seinem Läster, seinem Mund,
bereits des morgens und zur Stund.

Bis zu den Welten tief im All
da widerte der stolze Hall
von seinem Wort, von seinem Schwall,
recht donnernd wie der Ur beim Knall.

Doch spät des abends dann beim Brot
da rang sein Atem mit der Not.
Er borngte noch ein letztes Mot,
schwupps war er mause schon — und tot…

[meine ursprünglichen Begriffe hier waren “blöder Hund, kunterbunt, Lästermund, Morgenstund, Weltenall, Widerhall, Wortschwall, Urknall, Abendbrot, Atemnot, bon mot, mausetot”];

tot

(Wilhelm Busch)


das Deutsche ist an sich bereits eine besonders “tmesische” Sprache, da viele Vorsilben [Präfixe] oft vom Verb getrennt werden [ich möchte dir davon abraten: ich rate dir davon ab], aber nicht alle [ich entrate dem Kauf: ich rate dem Kauf ent]; lustig wird’s, wenn nicht teilbare Verben die Tmesis parodieren: ich rate sie hei [statt: ich heirate sie]; hier aus einem Scherzgedicht von Günter Nehm: “Dann waren beide fest verdrahtet, / sie hatten schließlich hei geratet. / Kein Besserer kam mehr vorbei, / drum sagten sie: Wir raten hei. / Oft zählt man zu den klugen Taten, / spontan und vorschnell hei zu raten. // Jedoch die Zeiten wurden trüber. / Bald waren sie sich drüssig über. / Er schätzte es, laut kra zu keelen, / sich schließlich völlig emp zu fehlen. / Moral: Der Wunsch zu schlafen bei / gibt keinen Grund zu raten hei.”)

Satzumbau

Hyperbaton (+ Tmesis)

Herum lief ich, nur so zum Spaß,
in einem grün’ren Hemd als Gras.
Besonders rot die Ampel war,
dort fast ich wartete ein Jahr,
bis mir zu bunt wurde das Ding
und ich hinüber flink dann ging.

(tanzen ein oder mehrere Wörter aus der Reihe, verschoben meist nach vorn; Yodas Lieblingsfigur: “Meditate on this I will.”; ↪ auch Hyperbaton in “Episch”

(RPW: Yoda with Heine’s Flower, 2014
[“so like a flower, / So fair and pure and fine” – spiegelverkehrt])


hier noch ein lustiges Beispiel, bei dem der Satzumbau, dies Figürchen, es scheint mir zu klingen wie “masurisches Deutsch”: “„Für wen“, sprach [der Rektor Ratz], „und aus welchem Grund wird gesungen das Liedchen!“ / „Es ist“, sagte Eugen Boll, „ein Liedchen zur Begrüßung. Sagen wir mal, zur Begrüßung des Frühlings.“ Der Ratz, er hob plötzlich die Nase, schnupperte, stellte sich, dieser Mensch, auf die Fußspitzen und sog die Luft ein, und auf einmal kam er, beroch uns Knaben und sprach: „Die Zöglinge“, sprach er, „sie stinken.“ Und nach einem erklärenden Blick zu dem Latrinchen: „Wenn man schon, Lehrer Boll, den Frühling begrüßen will mit einem Liedchen im Grünen – warum denn, wenn ich fragen darf, muß das stattfinden neben dem Latrinchen! Warum nicht, wie es ziemlicher wäre, in Gottes schöner Flur!“ / „Die Knaben“, sprach darauf unser Eugen Boll, „sie sind müde vom Dienste am Geist. Und außerdem haben sie sich, wenn es erlaubt ist, sozusagen, an die Umstände gewöhnt. Wo man sie auch hinstellt, sie singen und begrüßen den Frühling.“ „Aber trotzdem, Lehrer Boll, sollte man nicht suchen die Nähe des Stunks. Denn die Zöglinge, Ehrenwort, könnten Schaden nehmen dabei.“”[Siegfried Lenz: So zärtlich war Suleyken]; ↪ auch Pronomen in “Wort”; Tmesis ↪ Wortzerschneidung in “Selt aber würdig”)

Ein Verb regiert Verschiedenartiges

Syllepse

Ich ging, ich schlenderte vergnügt und rege,
mein Hemd so grün und Hoffnung, auf dem Wege.
Urplötzlich aber leuchtet was wie Blut.
Wie ist die Ampel rot und meine Wut!
Fällt mir nicht etwas ein dann auf den Hut;
rasch renne ich mit heißem Kopf und Mut.


(Wilhelm Busch)


(↪ Syllepse in “Spannung” und Syllepse in “Geistreich”; er steht vor der Tür und der Frage: “Dschingo stand außer vor der beharrlich verschlossenen Badehütte auch vor der Frage, wie er jetzt von Kritzendorf nach Wien kommen sollte.” [Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch]; statt “warum der Notar nicht auf der Stelle in Ohnmacht fiel” schreibt Jean Paul Richter in Flegeljahre: “warum der Notar nicht auf die Stelle fiel und in Ohnmacht”)

Satzmitte bezieht sich auf Beginn und Ende

Apokoinu

Ich trug das grüne Hemd und das verkehrte,
(ein Narr ist der da grüne Hemden trägt),
beging die Straße und ich überquerte.
Rot war die Ampel hat mich aufgeregt.

(Dies erinnert an [einen Januskopf] trägt die Figur; “Rot war die Ampel” + “Die Ampel hat mich aufgeregt” = “Rot war die Ampel hat mich aufgeregt”; “Das ist doch ein Unding ist das!”; “Ich werde nie reich mir doch mal den Kaviar, Liebling!” [hier sind sogar drei Figuren vermischt: Kalauer, Apokoinu und Paradox]; ↪ auch Satzumbau in “Episch”, Satzbruch in “Alltag” und Ellipse in “Selt aber würdig”; auch Zeugma ist verwandt: Prozeugma in “Geistreich” und Hypozeugma in “Humor”)

Peter Koch: Im Streit mit dem zweiten Ich, 1951

Einschub zwischen Präposition und Objekt

Hysterologia + Tmesis

Als ich mit diesem, wie du weißt, sehr grünen Kleid
und stur auf jener, ja du rätst es, Straße ging,
da tat es mir, ich muß es wirklich sagen, leid,
dass ich es immer noch, zum Teufel, trag das Ding.

Als ich an der, wie ich schon sagte, Ampel stand
in meinem grünen, Mensch nun aber Schluss, Gewand,
da ging ich dann bei, ja verflucht noch eins, bei Rot.
Jetzt muss ich mich gleich über- (schlag mich) geben (tot).

(Straßenkunst)

(die Figur der letzten Zeile ist zum Glück noch nicht erfunden, oder?; Hysterologia: oft gleichbedeutend mit Hysteron-Proteron; hier Einschub eines Satzes zwischen Präposition und Objekt; vergleiche auch ↪ Parenthese [Einschub] in “Geistlos”; Tmesis: ↪ Wortzerschneidung in “Selt aber würdig”)

Gegen die Zeit

Anachronismus, Hysteron-Proteron

Über die Straße bei Rot ging und ein Hemd, ein grünes, trug ich.


Dann lief bei Rot ich ungehemmt
und fasste mir ein Herz.
Ich trug ein grünes Oberhemd
und machte mir den Scherz.


Fritz rannte einst in Grün bei Rot.
Er ist begraben jetzt und tot.

(“ich will nun schlafen und nach Hause gehen…”; gegen die Zeit; zuerst das Letzte, zuletzt das Erste; auch Umkehrung einer Formel [Hendiadyoin]: “begraben und tot” statt “tot und begraben”, klingt ein wenig sarkastisch hier; besonders das erste Beispiel kann auch als Satzumbau gesehen werden, ↪ Satzumbau in “Episch” und Satzumbau in “Selt aber würdig”

(Rolf-Peter Wille)

das folgende ironische Beispiel stammt aus Goethes Faust: Marthe: Was bringt Er denn? Verlange sehr – // Mephistopheles: Ich wollt, ich hätt eine frohere Mär! – / Ich hoffe, Sie läßt mich’s drum nicht büßen: / Ihr Mann ist tot und läßt Sie grüßen. // Marthe: Ist tot? das treue Herz! O weh! / Mein Mann ist tot! Ach ich vergeh!)

Mephisto und Marthe

Emil Jannings als Mephisto und Yvette Guilbert als Marthe
in Friedrich Wilhelm Murnaus Faust – eine deutsche Volkssage, 1926

Verneinung des Gegenteils

Litotes

Ein blaues Kleid trug ich wohl kaum
lag auch im Bette nicht zu Haus.
Kein Kreisel war’s. Es stand kein Baum.
Das Licht – nicht gelb – ging niemals aus,
das grüne konnte man nicht sehn,
und ich nicht länger stille stehn.

(auch meine Wenigkeit ist kein Verächter dieser nicht uninteressanten Figur; nicht selten auch doppelte Verneinung; eine Lieblingsfigur, übrigens, des Chinesischen: “sehr gut” ist meist “nicht falsch” [不錯] und dieses “nicht falsch” lässt sich sogar steigern zu “noch mehr nicht falsch”, “besonders nicht falsch” [非常不錯], usw.; ↪ auch Tiefstapeln in “Geistlos”

Epigram über einen schlechten Sänger von Samuel Taylor Coleridge: “Ein Schwan der singt bevor er stirbt – es wär / Nicht schlecht, wenn jemand stirbt bevor er singt.” (nicht nur Litotes [keine schlechte Sache] sondern auch fünfhebiger Jambus [den ich hier übersetzt habe], Chiasmus [singen/sterben – sterben/singen] und Sarkasmus!)

ein gesteigerter Litotes kann auch noch den Superlativ verneinen: “Die Pflichten gegen uns selbst sind die wichtigsten und ersten, und also der Umgang mit unserer eigenen Person gewiß weder der unnützeste noch uninteressanteste.” [Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge: Über den Umgang mit Menschen])

Knigge

Verwechslung

Hypallage

Ich sage mir, drum glaub es dir,
wenngleich ich dich nicht frug:
Ein Hemdlein ging so grün auf mir,
als ich die Straße trug.

Da fiel mein Auge mir, oh Schreck,
grad in das Ampellicht,
rot lief mir das Verbot hinweg,
verlor mich mein Gesicht.


Willst Ampelrot du überstrampeln
solltest du in Hemdgrün hampeln.

Marc Chagall: Der Spaziergang, 1917

(es verwechselt mich; “verschobenes Epitheton” [nicht “mein Gehen” ist “grün” sondern mein “Hemd” und es “ging” nicht “auf mir” sondern “ich” “auf der Straße”]; häufig bei Schiller: “der Lieder süßen Mund” [Die Kraniche des Ibykus], “der Saiten goldnes Spiel” [Kassandra]; die Güte des folgenden Beispiels, einer originellen Vermischung von Ellipse und Hypallage, verdanke ich Herrn Steigertahl, meinem Deutschlehrer: “Hättest du die Güte des Kaffees?” [für “wärest du so gut, mir den Kaffee einzuschenken?”]; → auch Hypallage in “Episch”)

Steigertahl

Hans-Joachim Steigertahl, Neue Oberschule Braunschweig, 1973