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Dramatisch

Einzeiler + Wortgefecht

Stichomythie + Antilabe

ERSTER   AUFTRITT

Straße. Wille mit einem grünen Hemd

W i l l e.
    Dies grüne Hemd das gibt mir keine Ruh!
H e m d.
    Dann zieh mich wieder aus!
W i l l e.
                     Wer, ich?
H e m d.
                                                   Nein, du!
W i l l e.
    Wieso?
H e m d.
                Hast du kein anderes?
W i l l e.
                                                                     Au wei!
    Ist das hier Antilabe?
H e m d.
                                                        Laberei…


ZWEITER   AUFTRITT

Eine Ampel. Rot

A m p e l.
    Du und dein grünes Hemd, ihr bleibt hier stehn.
W i l l e    u.   H e m d.
    Das ist uns einerlei – wir werden gehn!

(gehen hinüber)

A m p e l.
    Gleich kommt die Polizei – ihr sollt es sehn!

(springt auf Grün)

Finis

(Stichomythie [Stichomythia]: Einzeiler, Rednerwechsel von Verszeile zu Verszeile; → auch Gegenfrage und Retourkutsche in “Dramatisch”; von Zeilenpaar zu Zeilenpaarspaar → Distichomythie; Antilabe: hat eigentlich nichts mit “Laberei” zu tun sondern bedeutet “Widerhalt”; Rednerwechsel innerhalb einer Zeiler [“Ich bin’s, herein, du musst es dreimal sagen”: M e p h i s t o p h e l e s. “Ich bin’s.” F a u s t. “Herein!” M e p h i s t o p h e l e s. “Du musst es dreimal sagen.” – Goethes Faust I ], Wortgefecht; schon bei Sophokles, Euripedes und Seneca; oft in Shakespeare; heute ist der [meist aufdringliche] Effekt der Dringlichkeit in Rednerduellen außerordentlich gewöhnlich in dramatischen Theaterstücken, Filmen und Seifenopern)

(Komödie und Tragödie)

Zeilenpaare

Distichomythie

W i l l e.
    Schon wieder lauf ich rum mit grünem Hemd.
    Und meine Haare sind recht ungekämmt.
H e m d.
    Nicht ungekämmt allein, auch ungewaschen!
    Hast du denn keinen Kamm in deinen Taschen?
K a m m.
    Hier bin ich doch! Was soll denn das Geschrei?
    Seht ihr die Ampel nicht da vorn, ihr zwei?
A m p e l.
    Halt! Stehngeblieben! Nicht mehr weiter! Stopp!
    Auch du mit deinem ungewaschnen Kopp!
W i l l e.
    Na hörn’se mal, das ist ja wohl die Höh!
    Was schert mich denn dein blödes Rot? Adieu!

(geht rüber)

A m p e l.
    Ich mach dein Hemd und deinen Kopf zunichte:
    Du schreibst zur Strafe dreihundert Gedichte!
W i l l e.
    Willkommen, oh du Enzyklopädie.
    Hier finde ich schon “Distichomythie”.

(ein Zeilenpaar, ein Zeilenpaar [mit Rednerwechsel], es wirkt etwas steifer hier als Zeile gegen Zeile → Stichomythie; → auch Gegenfrage und Retourkutsche in “Dramatisch”; nicht zu verwechseln mit Distichon in “Vers”)

Beiseite

Straße. Wille mit grünem Hemd

W i l l e.
    Mein Glitzerhemd ist eine Wonne,
    das überfunkelt noch die Sonne!
Beiseite: Der Müll muss endlich in die Tonne.
Laut: Ah, die Arkaden! Ganz was Feines!
Beiseite: Verbrecherviertel, ganz gemeines –
    nicht mal die Ampel funktioniert…
Zu einem Fußgänger: Na bitte! Gehn wir – nicht geniert. Ab.

(Beiseitesprechen: für sich, zum Publikum, beiseite: also an dich, der du dies liest; oft Kommentare, manchmal Beschimpfungen des Dialogpartners, die dieser nicht hören soll → Jago in Othello [“This is the night / That either makes me or fordoes me quite.”]; → auch Gegenbehauptungen in “Geistlos”)

(Othello und Jago)

Personenbeschreibung

Characterismus + Icon (+ Ethopoeia)

X.
(torkelt)

    So onkelte das fette Weib,
    kaum kann ich’s imitieren.
    Und eine Tonne war ihr Leib,
    doch tat sie sich nicht zieren.

(macht Bocksprünge)

    Denn plötzlich bei dem roten Licht
    hüpft’ sie wie’n Känguru,
    verlor dann noch – das glaubste nicht –
    ‘nen grünen Überschuh.

    Da schrie sie auf und fluchte wild:
    “Ach, diese Mist-Galoschen!”
    Ein Bursche hat sie angeschaut,
    den hätt’sie fast verdroschen.

(Personenbeschreibung; Icon: durch Simile, ↪ Metapher + Simile in “Lyrisch” und Bild in “Spannung”; Ethopoeia: Imitation oder charakeristische Darstellung [der Sprachgestik einer Person], hier: “diese Mist-Galoschen!”; die Szene hier wirkt recht lebendig)

Ratlosigkeit

Aporia

Mein Gott! Was soll ich machen?
Entblättern? Welche Schmach!
Kauf ich mir neue Sachen?
Mein Hemd zu grün! Ach, ach…

Oh je! Das ist zu dumm!
Die Ampel rot! Der Krach!
Verduften? Steh ich rum?
Ich weiß nicht, was ich mach…

(Hilflosigkeit, Bezweifelung, zur Schau gestellte Selbsterörterung;
↪ auch Aporia in “Alltag”)

“Hopsa! – Er entblättert sich. – ”
(Wilhelm Busch)

Frage und Antwort

Anthypophora

W i l l e.
    Das grüne Hemd? Kann ich’s vermeiden?
    Die Leute können es nicht leiden.
    Ach Quatsch, was stört mich denn das Pack.
    Ich hab den besseren Geschmack!

(sieht eine Ampel)

    Das Rot vergisst, sich umzuschalten.
    Ist die kaputt? Soll ich hier halten?
    Bestimmt fängt mich die Polizei…;
    na ja, das ist mir einerlei!

(geht rüber)

Grün ist schlecht?
Nun erst recht!
Rotes Licht?
Stoppt mich nicht!

(Anthypophora [Hypophora]: Selbst-Argument, Frage? Antwort; ↪ auch Beiseite und Eingeschobener Dialog in “Dramatisch” und Gegenbehauptungen in “Geistlos”)

Schimpanse

Eingeschobener Dialog

Sermocinatio

Ist dies grüne Hemd modern?
Trägst du’s häufig, trägst du’s gern?
Klar! Ich fühl’ mich darin frei,
denn es ist der letzte Schrei.

Sollst du noch dies Rot betrachten
und das Gehverbot beachten?
Nein! Man will mich hier nur foppen.
Darum werde ich nicht stoppen!

(Disput; für jemand anders sprechen; Dialog im Monlog; hier Gespräch verschiedener Selbsts, kann den Monolog beleben; ↪ auch Anthypophora in “Dramatisch”)

Schimpanse 3

Definition

Horismus

Ein Hemd? Das ist ein alter Lappen!
Ein grüner Sack!
Sind’s Ampeln? Nein! Das sind Attrappen
und roter Lack!

(Definition, oft durch Gegensatz)

Sack

Wortwiederholungen mit Einschüben

Diakope (+ Exklamation)

Vergessen…, ich vergaß, mich umzuziehn –
mein Hemd, das Hemd, mein Gott – das Hemd ist grün!
Ist die da rot, die Ampel rot? Ich seh…,
ich glaub ich geh, geh rüber, geh, geh, geh!

(Diakope [Diacope]: Wortwiederholungen mit Einschüben; selten zur Darstellung des “Wankelnden”: “Wankelmütig, / wankelmütig – / wie die runde Blechlaterne / wankelmütig sich an diesem Abend tummelt; / wie ein wankelmüt’ger Jüngling, / der am Schilf vorübertaumelt: / so verwirrt und / wankelmütig / leben wir wohl unsre Tage.” [Siegfried Lenz, ~1948]; meist zur Steigerung des Dramatischen Ausdrucks: “A Horse! a Horse! my kingdom for a horse!” [Shakespeares Richard III]; → auch Unmittelbare Wortwiederholung und Diakope in “Humor”; andere Figuren mit Wortwiederholung ↪ Anapher, Epipher, Symploke und Anadiplose; Exklamation: Ausruf!)

Richard III

“Ein Pferd! ein Pferd! mein Königreich für’n Pferd!”