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Kurzer Haupsatz ohne Nebensatz

Parataxe

Der Himmel ist wolkenlos. Der Durst ist unerträglich. Man jubelt uns zu. Menschen zucken im Rhythmus der Trommeln. Ich höre sie kaum. Vor mir läuft Kabiga in grünem Trikot. Sein elastischer Körper kennt keine Müdigkeit. Leicht und federnd läuft er uns davon. Stehenbleiben! Aufgeben! Irgendetwas zieht mich weiter. Die Agonie läuft mit uns, in uns. Es geht wieder durch Nairobi. Plötzlich ein Kreischen. Ein PKW schießt über die Kreuzung. Mit einem Schnellspurt rettet sich Kabiga. Doch nun ist die Agonie vergessen. Unmerklich hole ich auf.

(Parataxe [Parataxis]: Aneinanderreihung [hier kurzer] Hauptsätze; außerordentlich energisch, aber ebenso klischeehaft, Reportage; → auch Bildsprung in “Lyrisch” und Hypozeuxis in “Spannung”; das Gegenteil ist die Hypotaxe)

Erweitertes Satzgefüge

Hypotaxe

Am 12. April ging der Gymnasiast Karl Hinze, dem bereits mehrfach ein Verweis wegen schlechten Betragens erteilt wurde und der deshalb auch sowohl bei seinen Klassenkameraden als auch beim Kollegium des Wilhelminiums als nicht sonderlich beliebt gilt, auf seinem Weg zur Schule in einem grünen Kapuzen-Anorak der Marke “Green Life”, einem Kleidungsstück, das heute bei Schülern – da sowohl sportlich als auch nützlich – offensichtlich sehr beliebt ist, bei Rotlicht über die Kreuzung Zwickring/Blüthenstraße, fahrlässig und, wie von Augenzeugen berichtet wird, ohne sich zu vergewissern, daß die Straße frei war, vermutlich auch in großer Eile, da er verschlafen hatte und wohl befürchten mußte – wie er nun behauptet – zu spät zur Lateinarbeit zu kommen, die für ihn, da er vom Sitzenbleiben bedroht ist, von allergrößter Wichtigkeit war.

(Hypotaxe [Hypotaxis]: der im Deutschen so beliebte Schachtelsatz; hier vollgepfroft mit wenig charakteristischen Informationen, die sich entweder zerstreuen oder selbst im Wege stehen, ohne sich zu verdichten: hier ist alles Lebendige abgewürgt; nicht zu verwechseln mit Perioden!; berühmte Schachtelei von Konrad Duden: “Die, die die, die die Dietriche erfunden haben, verdammen, tun [ihnen] unrecht”)

(nicht alle Schachtelsätze sind geistlos; es gibt sehr kunstvolle bei Kleist und auch bei Thomas Mann; das Gegenteil ist die Parataxe; andere Schachteleien: Matrjoschka Puppen, Traum im Traum [→ Inception], Geschichte in einer Geschichte [→ Tausendundeine Nacht]; auch “nested commands” [in HTML], oder “window in a window”; → auch Seltsame Schleife in “Selt aber würdig”)

Matrjoschkas

Satzgefüge ohne Hauptsatz

Wie Sie mir nun ohne weiteres zugeben werden, dass einem Kerl mit solch grüner Jacke alles mögliche zuzutrauen wäre, ja, selbst dass er bei Rot über die Straße ginge.

(seltsam skizzenhaft aber durchaus reizvoll; ↪ auch Ellipse in “Selt aber würdig” und Aposiopesis in “Alltag”)

(Wilhelm Busch)

Relativsatz

Um nicht zu spät zur Jiu-Jitsu Stunde zu kommen, überquerte Dimitrij, der an jenem Nachmittag einen grünen Gürtel, den ihm sein Vater zum Muttertag geschenkt hatte, trug, bei Rot die Taschkent Straße.

(umständlich verschachtelt, zerfleddert, behindert das Erzählen, → auch Schachtelsatz in “Satz”)


Mein Blick wurde auf die andere Straßenseite gezogen. Ein Grinsen stand mir entgegen. Es war jener Sepp, der stets behauptete, ein alter Kriegskamerad meines Vaters zu sein. Sein Rachen, aus dem das Gold glitzerte, und seine Jägertracht, die wie seltener Smaragd glänzte, gaben ihm etwas Reptilartiges. Die Ampel, die noch rot war, schien Sepp nicht zu bemerken, denn er kroch direkt auf mich zu.

(hier sind die Relativsätze kräftiger, da sie etwas Charakteristisches aufzeigen; nur “die noch rot war” ist überflüssig und wirkt unbeholfen)

(Kamerad Sepp?)

Satzgefüge mit Konjunktion

Tief unter mir gingen meine Freunde frohgemut nach Hause, indes ich, in eine garstige Eule verwandelt, auf meinem Baum saß und weinte. Eine Eulenträne tropfte ausgerechnet dem Thorsten auf den grünen Tornister, ohne dass dieser sich jedoch darum bekümmert hätte. Während er nun da unten so trällernd, fidel und bei Rot über die Straße schlenderte, grämte ich mich darob in meinem Baum.

(indes, ohne dass, während, etc.; bei Wechsel der Perspektive recht wirkungsvoll; so wie die Präpositionen die Lotsen der [Haupt]wörter sind, betreiben die Konjunktionen die Navigation der Nebensätze; die Regel “fang einen neuen Hauptsatz an, wenn du etwas Neues sagen willst” ist Unsinn, wenn ein Nebensatz mit “Neuem” eine pikante Dissonanz zu erzeugen vermag; die Konjunktion ist die Hand, welche die Filmkamera schwenkt)

Perioden

Wenn ich sehe, wie oft du in diesem stinkenden Hemde gehst, wie du überhaupt nur dies eine grüne anziehst, worauf du auch noch stolz bist, worauf du dir Wunder was einbildest, wie du nun jeden Tag draußen herumlungerst, dich nur immer in den gemeinsten Vierteln herumtreibst, ja, die verrufensten Kneipen aufsuchst, wie du da Stunden sitzt, mit albernen Räuberpistolen prahlst, dich volllaufen lässt bis zur Besinnungslosigkeit und dich dann auch noch andere Typen von deiner Sorte nach Hause tragen müssen, dabei die grässlichsten, unflätigsten Reden führend, “Gossen”hauer gröhlend, auf dem Kot ausrutschend, über die Kreuzung wankend, sich übergebend, überhaupt den Verkehr unserer Stadt völlig lähmend – nein, da muß ich dir sagen: ich hab damit nichts zu tun, geh du deine eigenen Wege!

(Henri de Toulouse-Lautrec)

(nicht zu verwechseln mit dem sich zerfleddernden Schachtelsatz; Parallelismus, eigentlich auf Klimax zielende Anhäufung; wirkungsvoll, wuchtig → Accumulatio; die Regel “sag das Wichtige am Anfang des Satzes” ist Unsinn, wenn die Perioden Spannung aufbauen, wenn sie sich wie eine Spirale nach oben drehen können; wie lahm wäre dies Beispiel so: “Ich finde, Du solltest deine eigenen Wege gehen, da ich sehe dass du …”; Perioden werden oft im Zusammenhang mit Predigern erwähnt; hier ist aus der Beschreibung der Predigt des Pastors Paulmann im Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, 1785:

“Dem Verzweifelnden wurde zugerufen: knie nieder in Staub und Asche, bis deine Knie wund sind, und sprich: ich habe gesündigt im Himmel und vor dir – und so fing sich ein jeder Periode an mit: ich habe gesündigt im Himmel und vor dir! und dann folgte nach der Reihe das Bekenntnis: Witwen und Waisen hab ich unterdrückt; dem Schwachen hab ich seine einzige Stütze, dem Hungrigen sein Brot genommen – so ging es durch das ganze Register der Freveltaten. – Und jeder Periode schloß sich dann: Herr, ist es möglich, daß ich noch Gnade finde! –

Alles zerschmolz nun in Wehmut und Tränen. – Der Refrain bei jedem Perioden tat eine unglaubliche Wirkung – es war, als wenn jedesmal die Empfindung einen neuen elektrischen Schlag erhielt, wodurch sie bis zum höchsten Grade verstärkt wurde. – Selbst die zuletzt erfolgende Erschöpfung, die Heiserkeit des Redners (es war, als schrie er zu Gott für die Sünden des Volks) trug zu der allgemeinen um sich greifenden Rührung bei, die diese Predigt verursachte; da war kein Kind, das nicht sympathetisch mitgeseufzt und mitgeweint hätte.”

→ auch Perioden als Verszeilen in “Satz” und Perioden in “Pompös”;


Reiser


hier noch ein recht “kaltes” Beispiel, der Beginn von Franz Kafkas Erzählung Der Kübelreiter: “Verbraucht alle Kohle; leer der Kübel; sinnlos die Schaufel; Kälte atmend der Ofen; das Zimmer vollgeblasen von Frost; vor dem Fenster Bäume starr im Reif; der Himmel, ein silberner Schild gegen den, der von ihm Hilfe will.”)

Winter

Ausschnitt aus Pieter Brueghels Winter, 1565

Perioden als Verszeilen

Wo grüne Hemden uns erfreuen,
wo Blumen zwitschern, Vögel blühn,
wo Ampeln rot und saftig singen,
da greif’ zum Stift, mein Freund,
da schreib’ Perioden.

(→ Perioden in “Satz”, Anapher in “Lyrisch” und Dreigliedrig in “Spannung”; deutlich spürt man beim Periodischen hier den Übergang von der Prosa zur Lyrik; irgendetwas schaukelt sich auf, ein Rhythmus, der bereits Aussage ist, selbst wenn der “Inhalt” – wie hier – “unsinnig” scheint: Musik entschlüpft dem Ei der Sprache)

Dali Ei 2

Salvador Dali: Geopolitisches Kind beobachtet die Geburt des neuen Menschen, 1943