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Einleitung

Paradiegesis (+ Ironie)

Es lebte einst in altem Land
ein Dichter namens Hildebrand.
Der war ein Sänger und Rhapsode,
sang von der Liebe und vom Tode.
Er sänge auch, wenn er noch lebte,
vom grünen Panzer, der dir klebte,
auf deiner heldenhaften Brust,
von deiner kecken Kampfeslust
und – gehst du weiterhin bei Rot –
er sänge auch von deinem Tod.


Aber nicht selten lesen wir leider in heimischer Zeitung
grausige Nachrichten: wachsendes Chaos auf unseren Straßen.
Wie ich erst gestern am eigenen Leibe es selber erfuhr,
als auf der Kreuzung ein rasendes Auto mich beinah erwischte,
hätte mich nicht das leuchtende Grün meiner Weste gerettet.

(einleitende Erzählung, Introduktion; wie in der Musik oder im Film soll uns die Einleitung zum Weiterlesen, oder -hören, oder -schauen verführen; oft spielt das Erzählte hier in einer ganz anderen Zeit und behandelt ganz andere Ereignisse als das eigentliche Werk; Ironie ↪ Ironie in “Lyrisch” und Ironie in “Humor”)

Fabel

Es hüpfte einst in grüner Tracht
ein Fröschlein durch des Frühlings Pracht
und freute sich der Wiese.
Wie kunterbunt war diese!

Doch floss durch diese Wiese, ach,
ein ziemlich wilder Wirbelbach
und’s Wasser rauschte schaurig.
Da stand das Fröschlein traurig.

Und neben ihm ein Fabeltier,
ein riesenhafter Himmelsstier,
stand an dem wilden Bache
und fauchte wie ein Drache.

Rot funkelte sein Augenlicht.
“Was suchst du hier, du grüner Wicht?”
so schnaubte wild der Riese.
Es zitterte die Wiese.

Da sprang das Fröschlein in die Flut
und kämpfte sich mit Todesmut
durch Wellen und durch Wogen.
So ward der Stier betrogen.

(meist Erzählung mit [menschlichen] Tieren [Tierfabel] und moralischer Schlusspointe, hier: mit Mut kann der Schwächere [Frosch] auch Stärkere [Stier] besiegen; ↪ auch Personifikation in “Lyrisch”; die Fabel hat nichts von ihrer Frische verloren)

(Jean-Jacques Grandville, 1842)

Erinnerung + gute Ratschläge

Anamnesis + Diatyposis (+ Amphibrachys + Alliteration + Klimax)

Als Schüler da war ich ein scheußlicher Bengel,
ein schludriger Schlingel, kein artiger Engel,
ein Scheusal, ein Dummkopf, ein Böser, ein Wicht:
Ich hörte die Worte der Lehrerin nicht.

“Sei fein und adrett, doch stets vornehm bescheiden,
zu farbige Hemden, die sollst du vermeiden,
sei wach auf der Straße, geh niemals bei Rot!”
Das sagte die Gute – schon lang ist sie tot.

Doch kaum kommt die Pause, da spür ich ein Jucken,
ein Kribbeln, ein Krabbeln, ein Zappeln, ein Zucken.
Schon lauf ich nach Hause. Schon renne ich munter
im grünsten der Hemden die Straße hinunter.

Die Kreuzung. Es kommen mir Autos entgegen.
Die Ampel ist rot, doch ich schlittre verwegen.
Ein Hupen, ein Kreischen, ein Schlag und ein Schrei –
dann wurde es schwarz und dann war es vorbei.

Sechs Monate krank – intensive Station,
dem Tode entrissen durch Operation;
so ward ich gerettet, entkam ich dem Grabe
und wurde von nun an ein artiger Knabe.

(Anamnesis [Anamnese]: Erinnerung; Diatyposis: gute Ratschläge; Amphibrachys → Amphibrachys in “Vers”; die lustige Lebhaftigkeit in diesem Beispiel kommt weder von der Erinnerung noch von den guten Ratschlägen sondern vom Amphibrachys, von Alliteration, Asyndeton, Superlativ, Accumulatio, Klimax, etc.)

(Wilhelm Busch)

Und, und, und

Polysyndeton (+ Ellipse)

Und es war Sonntag und ich ging auf Wegen,
die mir vertraut und anderen, die abgelegen,
und meine Tracht war elegant und kühn:
Ich trug ein Jägerhemd und das war dunkelgrün.

Und bei dem Übergang da stand ein Licht,
da ward es Rot und, ach, da sah ich’s nicht.
Da schritt hinüber ich meinem Drange,
und neben mir stand eine Autoschlange.

(und und und; ↪ auch Futur in “Wort”; taucht das Erzählte in eine geheimnisvolle Atmosphäre; das Gegenteil ist Asyndeton, ↪ Asyndeton in “Spannung”)

(Aus dem Struwwelpeter)

Anfang wiederholt Ende + Anrede

Anadiplose + Apostrophe (+ Blankvers + Anapher)

Ich trottete durch eine graue Straße,
durch eine Straße meiner trüben Träume,
in einem grünen Hemd, dem grünen, das ich
viele Jahre trage, lange Jahre.
Und als ich zu der Ampel trat, da war sie
rot. Das Rote aber fürchte ich.
Ach, fürchte nichts, so sagte mir die Mutter.
Ach, fürchte nichts, das sagte mir der Vater.
Ach Vater, deiner Worte eingedenk
schritt ich hinüber auf die andre Seite.

(Anfang wiederholt Ende. Ende gut, …; die Wirkung hier entspricht dem “Trotten durch eine graue Straße” verstärkt natürlich auch durch den Blankvers; eine Reihe von “Anadiplosen” heißt Epiploke; vergleiche ↪ Anapher, Epipher und Symploke; oh Apostrophe, du…, ↪ auch Apostrophe in “Pompös”)

Gottfried Helnwein:
James Dean, Boulevard of Broken Dreams

Wortwiederholungen

Epiploke (+ Epanalepse + Epanadiplose + Enjambement)

Mein Hemd war zierlich, zierlich grün, grün wie der
lust’ge Frühling, als ich frohgemut
in guter Laune, ja in prächt’ger Laune,
auf des Frühlings Straße schlenderte.

Doch als ich nun so frei und frohen Mutes
lustig schlenderte, da sah ich eine
Ampel, eine Ampel deren grelles
Rot das lust’ge Schlendern mir verbot.
Ich aber, bald des Wartens müde, meiner
Müdigkeit vergessend, ich vergaß
der Ampel und ich schlenderte hinüber.

(Epiploke: mehrfache Anadiplose, Wiederholungkette; zieht sehr nach vorn hier, verstärkt durch die vielen Enjambements im Blankvers; Epanalepse [Epanalepsis]: Wiederholung, ↪ auch Epanalepse in “Dramatisch; Epanadiplose [Epanadiplosis]: Ende wiederholt Anfang; verwandte Figuren mit Wiederholungen ↪ Anapher, Epipher und Symploke)

Satzumbau

Hyperbaton, Anastrophe + Katapher (+ Hypallage)

Und als jedoch mit meinem eitlen Zweifel
an seiner grünen Form und Farbe ich
auf ihrem Bürgersteige wandelte,
ließ mich die Straße rasch mein Hemd vergessen.

Recht peinlich, plötzlich, schmerzlich beinah wurde
von ihrem roten Schein mein Aug geblendet,
als eine Ampel mir zu stehn gebot.
Doch da ich sie nun nicht beachtete,
die breite nicht und nicht das strenge, über-
schritt ich beide, Straß und Gehverbot.

(Hyperbaton und Anastrophe: Satzinversion; → auch Satzumbau in “Selt aber würdig”; vergleiche → Hysteron-Proteron in “Selt aber würdig”; Katapher [Kataphora]: Wortstellung wie bei Kleist; dies Vorgezogene [“seiner grünen Form und Farbe”], auf das dies Nachträgliche [“mein Hemd”] sich bezieht;

Satzumbau

wirkt recht kernig; → auch Pronomen in “Wort;

Heinrich von Kleist

im folgenden Beispiel aus Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß wirkt die Katapher eher evokativ: “Er kam sich dann so kraftlos vor wie ein Gefangener und Aufgegebener, gleichermaßen von sich wie von den anderen Abgeschlossener; er hätte schreien mögen vor Leere und Verzweiflung und statt dessen wandte er sich gleichsam von diesem ernsten und erwartungsvollen, gepeinigten und ermüdeten Menschen in sich ab und lauschte – noch erschrocken von diesem jähen Verzichten und schon entzückt von ihrem warmen, sündigen Atem – auf die flüsternden Stimmen, welche die Einsamkeit für ihn hatte – – – – – – –” [beim Lesen versteht man hier zunächst nicht worauf sich “ihrem” bezieht; es scheint, als wenn das Pronomen sein Bezugswort, die “Einsamkeit”, erst herbei flüstert: der eigenartige Satzbau entspricht ihm also und drückt ihn aus – den Inhalt des Satzes];

Musil

Robert Musil

Hypallage: Verwechslung, falsche Beziehung, z.B. “Zweifel an seiner grünen Form und Farbe” [nur die Farbe des Hemdes ist grün], wird auch “verschobenes Epitheton” genannt; → auch Hypallage und Anthimeria in “Selt aber würdig”; die Wirkung in meinem Beispiel ist recht kräftig, kernig, vorantreibend, auch hier wieder verstärkt durch “überschreitende” Enjambements im Blankvers)