Rätsel

Enigma

Ein Männlein auf der Straße
geht ganz allein.
Es trinkt aus einem Fläschchen
den roten Wein.
Sagt, wer mag das Männlein sein,
dass dort trinkt den roten Wein
mit dem flaschengrünen Mäntelein.

(Rätsel; Vergleich: “Wir sehen jtzt durch einen Spiegel [Spiegel, Glas, Linse?] in einem tunckeln wort [Rätsel] / Denn aber von angesicht zu angesichte. Jtzt erkenne ichs stücksweise / Denn aber werde ich erkennen gleich wie ich erkennet bin.” [1. Korinther 13]; ↪ Anspielung und Obskure Anspielung in “Geistreich” und Mehrdeutigkeit in “Geistlos”; Rätsel der Sphinx: “Was geht am Morgen auf vier Füßen, am Mittag auf zweien und am Abend auf dreien?”)

Sphinx

Oedipus und die Sphinx auf einer Vase, ~500 v. Chr.


Schumann Carnaval Sphinxes

Robert Schumann: “Sphinxes” aus dem Carnaval

Gründe

Prosapodosis (+ Epizeuxis)

Was trägst du so ein grünes Kleid und gehst bei rotem Licht, und wieso kommt nicht die Polizei und sperrt dich ein?

Was trag ich so ein grünes Kleid?
Warum? Warum? Warum?
Kein grünes wär doch nicht gescheit.
Darum. Darum. Darum.

Was geh’ ich denn bei rotem Licht?
Warum? Warum? Warum?
Ach, stünde ich und ginge nicht,
das wär mir wohl zu dumm.

Wieso kommt nicht die Polizei?
Wieso? Wieso? Wieso?
War denn die Polizei dabei?
Iwo. Iwo. Iwo.

Weshalb sperrt man mich denn nicht ein?
Weshalb? Weshalb? Weshalb?
Das wäre nicht besonders fein.
Deshalb. Deshalb. Deshalb.

Polizei

(Wilhelm Busch)

(Prosapodosis: ein Zurückgehen auf die einzelnen Punkte [Wörter] einer Behauptung oder Frage und jeden begründend oder erklärend [wobei meist dieselben Wörter zunächst wiederholt werden]: “Zu dieser Zeit, wie gesagt, hatte sich Hamilkar Schaß, mein Großvater, fast ohne fremde Hilfe die Kunst des Lesens beigebracht. Er las bereits geläufig dies und das. Dies: damit ist gemeint ein altes Exemplar des Masuren-Kalenders mit vielen Rezepten zum Weihnachtsfest; und das: darunter ist zu verstehen das Notizbuch eines Viehhändlers, das dieser vor Jahren in Suleyken verloren hatte.” [Siegfried Lenz: So zärtlich war Suleyken]; “Und wenn derselbe [der Heilige Geist als der Tröster] kommt, wird er die Welt strafen um die Sünde und um die Gerechtigkeit und um das Gericht: um die Sünde, daß sie nicht glauben an mich [Jesum]; um die Gerechtigkeit aber, daß ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht sehet; um das Gericht, daß der Fürst dieser Welt gerichtet ist.” [Johannes 16]; Epizeuxis: unmittelbare Wortwiederholung ↪ Epizeuxis in “Humor”)

Greco Johannes der Evangelist

El Greco: Johannes der Evangelist, ~1600

Nicht unmittelbare Wiederholung

Diakope

Ach, wenn die Welt doch farblos wär,
ich bräuchte nicht dies Grün zu sehn,
ach, wenn die Welt doch farblos wär,
das Hemd bräucht ich nicht anzuziehn!

Ach, farblos wär die Welt so schön,
ich bräuchte nicht dies Rot zu sehn,
ach, farblos wär die Welt so schön,
hinüber bräucht ich nicht zu gehn,

Ach, wär ich doch bloß farbenblind,
dann spielte ich Klavier geschwind
als ein schwarz-weißes Wunderkind,
ach, wär ich doch bloß farbenblind!

(entzweigeschnitten – oh mein Gott – entzweigeschnitten!; hier Refrains; → auch Diakope in “Dramatisch” und Unmittelbare Wortwiederholung in “Humor”; andere Figuren mit Wortwiederholung ↪ Anapher, Epipher, Symploke und Anadiplose)

Wunderkind

(aus meinem ersten Fotoalbum, 1955)

Ritornell

Grüne Limette –
wie lieb ich dich im Gin mit etwas Tonic!
Du grünst mit meinem Kleidchen um die Wette.

Rote Tomate –
wie lieb ich dich so bloody in der Mary!
Ich schmeiß dich auf die Ampel als Granate.

(meist drei Zeilen, oft mit einem kürzeren “Blumenruf” in der ersten Zeile, gefolgt von einer knappen Schlussfolgerung [oft wird “die Blume” hier in der zweiten Person angeredet]: “Blüte der Mandeln! / Du fliegst dem Lenz voraus, und streust im Winde / Dich auf die Pfade, wo sein Fuß soll wandeln.” [Friedrich Rückert Ritornell Nr. 1]; in meinem ironischen Beispiel ist der “Blumenruf” ein “Frucht- und Gemüseruf”, “Sonate” wäre ein lieblicher Reim auf “Tomate”: Und spielst du die Mondscheinsonate / so schmeiß ich die rote Tomate; → auch Terzine in “Reim” und Knappe Schlussfolgerung in “Humor”)

Arcimboldo

Giuseppe Arcimboldo: Vertumnus [Rudolf II], 1590

Triolett

Du liebstes Hemd strahlst immer grün
bei jedem Wind, bei jedem Wetter.
Du trotzt dem Rot so toll und kühn,
drum dank ich dir, mein Immergrün,
für nicht verlorne Liebesmühn.
Heut bin ich dünner, morgen fetter:
Du liebstes Hemd strahlst immer Grün
bei jedem Wind, bei jedem Wetter.

(ABaAabAB, 1 = 4 = 7, 2 = 8; lebendiger, witziger Inhalt muss hier dem Statischen der Form entgegenwirken; “Freund, noch einen Kuss mir gib, / Einen Kuss von deinem Munde, / Ach! ich habe dich so lieb! / Freund, noch einen Kuss mir gib. / Werden möcht ich sonst zum Dieb, / Wärst du karg in dieser Stunde; / Freund, noch einen Kuss mir gib, / Einen Kuss von deinem Munde.” [Adelbert von Chamisso]; vergleiche auch → Identischer Reim im Ghasel in Reim und Sestine in Akrobatik)

Verlorene Liebesmueh

Scharf-dumm

Oxymoron

Mit nacktem Kleide, grün, verziert mit blassen
ganz dunkelgrell gestreiften Flecken,
lauf ich gelassen durch die breiten Gassen
rund um die Uhr und alle Ecken.

In stiller Eile steht die laute Menge,
herrliche Damen, zarte Rocker…,
doch mir wird’s an der Ampel dort zu enge.
Ich reiß mich cool vom heißen Hocker.

Oxymoron 2

(scharf-dumm; → Dunkel war’s, der Mond schien helle; im folgenden Beispiel folgt das Oxymoron einem Paradoxon: Prof. Kupfer – genannt “Gott Kupfer” – hält sein Wohnzimmer in strikter Unordnung, um sich selbst vorzumachen, er sei ein Bohmien: “Er fuhr die Wirtschafterin grob an, wenn sie beim Staubaufwischen die Stöße geschlichtet hatte […] und all die übrigen Gegenstände nicht auf jenem Platz stehengelassen hatte, auf den nicht hinzugehören ihre tägliche Bestimmung war. Auch in den Laden des Schreibtisches herrschte stramme Schlamperei.” [Friedrich Torberg: Der Schüler Gerber]; nicht alle Oxymora sind witzig; hier ein recht evokatives Beispiel: “Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken / wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng” [Beginn der Todesfuge von Paul Celan]; → auch Enantiosis in “Alltag” und Paradoxon in “Selt aber würdig”)

Todesfuge

Wortspiel

Paronomasie

Ich fand, als ich die Sach erwog,
dass Doktor Gruen, mein Psycho, log:
denn weder Gürtel- noch Neurose
erblühten rot in der Psyc Hose.

 

 

(nicht der Psychologe in meinem Beispiel)

 

(Wortspiel, ↪ auch Paronomasie in “Reim” und Metathese in “Selt aber würdig”; Einfallsreichtum verlangt die Übersetzung von Wortspielen z.B. in Shakespeare: so hat Wolf Graf Baudissin das Wortspiel conceive = verstehen [“I cannot conceive you.”] versus conceive = [ein Kind] empfangen [“Sir, this young fellow’s mother could”] folgendermaßen übersetzt: “KENT. Ist das nicht Euer Sohn, Mylord? / GLOSTER. Seine Erziehung ist mir zur Last gefallen: ich mußte so oft erröten, ihn anzuerkennen, daß ich nun dagegen gestählt bin. / KENT. Ich verstehe Euch nicht. / GLOSTER. Seine Mutter und ich verstanden uns nur zu gut, und dies Einverständnis verschaffte ihr früher einen Sohn für ihre Wiege, als einen Mann für ihr Bett. Merkt Ihr was von einem Fehltritt?”, Christoph Martin Wieland hingegen: “Kent. Ich begreiffe euch nicht. / Gloster. Die Mutter dieses jungen Menschen konnt’ es; sie bekam davon eine gewisse Geschwulst, und zulezt, Sir, fand sich, daß sie einen Sohn für ihrer Wiege hatte, ehe sie einen Gemahl für ihr Bette hatte. Riechet ihr den Fehler?” [King Lear], erst nach zweimaligem Lesen begriff ich die Doppeldeutigkeit von “begreiffen”; hier noch eine weitere Wortspielerei von mir selbst – ein Limerick Gedicht – das auch in’s Kapitel “Akrobatik” passte:

                            Vers Offenheit

    Ein freier Verseur aus Frisoffen
    der machte die Leser betroffen:
         so locker die Verse!
         So lässig schrieb er se,
    so flüssig versiert und Vers offen.

    Drum Dichter, schreib’ offene Verse –
    gereimte sind leider perverse!
         Ein redliches Hoffen
         bleibt ehrlich Vers offen –
    die Reimkunst? Zur Schleim Gunst erklär’ se!

    Was willst Du die Wörter verwenden,
    um uns durch Rhetorik zu blenden?
         Nach rechtem Ermessen
         darf niemand Vers essen
    und affig mit Reimen Vers enden.

    Vermeide solch eitele Pfauen,
    die heute auf Metrik noch bauen!
         Auch jene Gelehrten,
         die dichten Vers ehrten,
    sie weiden auf Sumpf und Vers Auen.

    Und übe Dich stets im Vers Tümmeln!
    Wer mag sich zum Rhythmus noch lümmeln?
         Galantes erlauben
         dem saubren Vers Tauben
    die lieblichen Täubchen beim Kümmeln.

    Prosodisches sollst Du verbannen,
    denn Strophisches fördert Vers Pannen.
         Wer kann es noch brauchen,
         verkrampftes Vers Tauchen?
    Prosaisch drum dichten wir Mannen!

    Verlog’ner Vers Ahnen Vers Tunken
    ist prustend in Prunksucht ertrunken.
         Wer will uns Vers Igeln
         die Stacheln ausbügeln?
    Verschwindet Ihr Frösche, Vers Unken!
)

Sestine

Wie gerne wandre ich! Der Berge Grün
erquickt die Seele, wenn ich munter geh.
Hoch auf der Klippe oft im Abendrot
verstummen die Gedanken und ich seh
den Wolkengrund, die Augen springen kühn
hinein, hinab und tauchen in den Tod.

Was schaun sie? Welche Farbe hat der Tod?
Forellenblau, schmückt ihn Zypressengrün,
liebt er das Lila oder hüllt er kühn
und streng sich nur in tiefes Schwarz? Dann geh
ich fort, verlass die Klippe und ich seh
die Nacht. Verschwunden ist das Abendrot.

Kennt er die Farbe nicht, kein Grün, kein Rot,
so ist er wohl ein Komponist, der Tod.
Im Schwarzen singe ich sein Lied und seh
Erinnerungen, seh der Töne Grün.
Zu eignem Rhythmus atme ich und geh
hinab durch finstre Nacht doch froh und kühn.

Wie färbt das Melos mich, wie malt es kühn
die Bilder in die Seele! Brueghelrot
erglimmet die Vision – ich übergeh
Skelettenlust – so triumphiert der Tod.
Hier schon ein frisches Bild: Pissarrogrün
liegt eine Wiese, die ich schimmern seh.

Was mit dem innren Aug ich leuchten seh,
gar hübsch bezaubernd, zärtlich, grässlich, kühn,
wie fasziniert es mich das grelle Grün –
weit grüner als die Eifersucht, das Rot –
wie Blut, das Schwarz – noch schwärzer als der Tod,
wie wenn ich nachts im Dunkeln irregeh!

Doch fürcht ich’s nicht, wenn ich im Finstern geh,
da selber ich in mir die Bilder seh.
Droht mir mit Schwarz wohl auch der Tod,
durchleuchten meine Lichtvisionen kühn
sein Farbenlos mit meinem Feuerrot,
mit meinem Blau, mit meinem Bergesgrün.

Wenn frohen Muts durchs frische Grün ich geh
und, feurrot, die Sonn des Abends seh,
so schreit ich kühn und fürchte nicht den Tod.

Wanderer

Caspar David Friedrich: Der Wanderer über dem Nebelmeer, 1818

(sehr strenges Formschema, sechs Strophen mit sechs Verszeilen, die Reihenfolge der Endwörter [die in meinem Beispiel auch Reimwörter sind]: abcdef, faebdc, cfdabe etc., bzw. immer faebdc der vorherigen Strophe; die dreizeilige Coda, oder Geleitstrophe, enthält alle Reimwörter, zwei pro Zeile: ab cd ef; nur mit Gedankenakrobatik kann man die immer wiederkehrenden Reimwörter [hier “grün / geh / rot / seh / kühn / tod”] stets neu verknüpfen; die Wiederholungen mögen langweilig oder beschwörend anmuten, → auch Ghasel in Reim und Triolett in Humor)

Glosse

          Grüne Hemden, die entzücken,
          denn sie sind so elegant.
          Nur in Grün bist du charmant,
          darf dich Rotlicht nicht bedrücken.

Alles Grüne, das wir sehen,
will erfreuen, will beglücken.
Wie? Du willst mich nicht verstehen?
Lass, mein Freund, die falschen Tücken
und hör auf, dich wegzudrehen!
Schaue, wie die grünen Blätter
jene alten Bäume schmücken.
Schau sie an, sie sind koketter
und auch du, mein Freund, wärst netter:
Grüne Hemden, die entzücken.

Selbst im Urwald lebt die Mode.
Selbst der große Elefant
hebt den Rüssel mit Methode
und mit zartem Kunstverstand
kleidet sich der Antipode.
Selbst die Muse der Meduse,
ist mitunter recht pikant,
kauft sie bei Beate Uhse
grüne Slips und eine Bluse,
denn sie sind so elegant.

Lass das Alte still vergammeln.
Gib den Schaben was zu Beißen.
Die Klamotten, die da bammeln,
sowas tragen nur die Preißen,
da sie meistens Preißisch stammeln.
Trau dich nur, ihn wegzuschmeißen,
deinen abgetragnen Tand.
Traue dich, die ollen weißen
Oberhemden zu zerreißen.
Nur in Grün bist du charmant.

Kleine, unsichtbare Mücken
sirren oft bei rotem Licht
und sie stechen in den Rücken
oder sogar ins Gesicht,
wenn wir uns nicht rasch verdrücken.
Mancher ist bei Rot gerannt
und geht heute noch an Krücken.
Doch in Grün bist du markant,
hast du alles in der Hand,
darf dich Rotlicht nicht bedrücken.

(ein Vierzeiler wird von vier Strophen glossiert [kommentiert, erläutert, bzw. ironisch in einen neuen Zusammenhang gestellt], wobei jede Zeile des Vierzeilers die Endzeile einer Glossen-Strophe wird; Reimschema: ababacdccd, hier: ababacbccb, mit Veränderungen; vergleiche auch ↪ Prosapodosis in “Humor”)

Ludwig Uhland: Der Recensent [Rezensent], 1813

Sprachkunst, Rhetorik, Figuren: 300 Veränderungen über einen Satz — mit Kommentaren und Illustrationen — „Grüne Figur bei Rot": Kleines Rhetorikum ©2009 Rolf-Peter Wille