Sestine

Wie gerne wandre ich! Der Berge Grün
erquickt die Seele, wenn ich munter geh.
Hoch auf der Klippe oft im Abendrot
verstummen die Gedanken und ich seh
den Wolkengrund, die Augen springen kühn
hinein, hinab und tauchen in den Tod.

Was schaun sie? Welche Farbe hat der Tod?
Forellenblau, schmückt ihn Zypressengrün,
liebt er das Lila oder hüllt er kühn
und streng sich nur in tiefes Schwarz? Dann geh
ich fort, verlass die Klippe und ich seh
die Nacht. Verschwunden ist das Abendrot.

Kennt er die Farbe nicht, kein Grün, kein Rot,
so ist er wohl ein Komponist, der Tod.
Im Schwarzen singe ich sein Lied und seh
Erinnerungen, seh der Töne Grün.
Zu eignem Rhythmus atme ich und geh
hinab durch finstre Nacht doch froh und kühn.

Wie färbt das Melos mich, wie malt es kühn
die Bilder in die Seele! Brueghelrot
erglimmet die Vision – ich übergeh
Skelettenlust – so triumphiert der Tod.
Hier schon ein frisches Bild: Pissarrogrün
liegt eine Wiese, die ich schimmern seh.

Was mit dem innren Aug ich leuchten seh,
gar hübsch bezaubernd, zärtlich, grässlich, kühn,
wie fasziniert es mich das grelle Grün –
weit grüner als die Eifersucht, das Rot –
wie Blut, das Schwarz – noch schwärzer als der Tod,
wie wenn ich nachts im Dunkeln irregeh!

Doch fürcht ich’s nicht, wenn ich im Finstern geh,
da selber ich in mir die Bilder seh.
Droht mir mit Schwarz wohl auch der Tod,
durchleuchten meine Lichtvisionen kühn
sein Farbenlos mit meinem Feuerrot,
mit meinem Blau, mit meinem Bergesgrün.

Wenn frohen Muts durchs frische Grün ich geh
und, feurrot, die Sonn des Abends seh,
so schreit ich kühn und fürchte nicht den Tod.

Wanderer

Caspar David Friedrich: Der Wanderer über dem Nebelmeer, 1818

(sehr strenges Formschema, sechs Strophen mit sechs Verszeilen, die Reihenfolge der Endwörter [die in meinem Beispiel auch Reimwörter sind]: abcdef, faebdc, cfdabe etc., bzw. immer faebdc der vorherigen Strophe; die dreizeilige Coda, oder Geleitstrophe, enthält alle Reimwörter, zwei pro Zeile: ab cd ef; nur mit Gedankenakrobatik kann man die immer wiederkehrenden Reimwörter [hier “grün / geh / rot / seh / kühn / tod”] stets neu verknüpfen; die Wiederholungen mögen langweilig oder beschwörend anmuten, → auch Ghasel in Reim und Triolett in Humor)