Category Archives: Geistlos

Mehrdeutigkeit

Amphibolie

Du hast ein grünes nicht
ein rot’s Gesicht
und läufst bei rotem nicht
bei grünem Licht!

(Amphibolie [Amphibologia]: Ambiguität; mehrdeutige grammatische Konstruktion; fehlende Interpunktion; ↪ auch Trugschluss durch Mehrdeutigkeit in “Geistlos”; in meinem Beispiel widersprechen die Verszeilen dem Sinn: Du hast ein grünes – nicht ein rotes Gesicht, oder: Ein grünes hast du nicht – sondern ein rotes Gesicht; berühmt ist das russische Telegramm mit dem Befehl “hinzurichten unmöglich zu begnadigen!” [1. “hinzurichten unmöglich! zu begnadigen!”? oder 2. hinzurichten! unmöglich zu begnadigen!”?]; Pythia, die weissagende Priesterin des delphischen Orakels, war berühmt für ihre mehrdeutigen Prophezeiungen; ↪ auch Rätsel in “Humor”)

Pythia

(Themis in der Rolle der Pythia prophezeit dem Aigeus), ~435 v. Chr.

Trugschluss durch Mehrdeutigkeit

Äquivokation, Homonym

Als grüner Schnabel musst du grüne Hemden tragen.
Die rote Wut soll dich bei Rot hinüberjagen!

(Trugschluss durch Mehrdeutigkeit; gleiches Wort andere Bedeutung; ↪ auch Mehrdeutigkeit in “Geistlos”; bei “grüner Schnabel” hat “grün” eine übertragene Bedeutung, bei “grüne Hemden” nicht; bekannt sind diese Parodien auf Goebbels Reden von 1944: “Und wenn der Engländer behauptet, wir hätten keine Warenhäuser, so ist das eine der infamsten Lügen. Im Zentrum standen Häuser, am Bahnhof, rund um das Schloß, überall waren Häuser. Und wenn der Engländer behauptet, wir hätten keine Kunst, so ist das gelogen. Soeben sind 3 Waggons mit Kunsthonig in Richtung Ostfront abgefahren.”; meist sind solche “Verwechslungen” witzige Absicht, ↪ Wortspiel in “Reim” und Wortspiel in “Humor”; vergleiche auch ↪ Gleiches Wort in neuer Gestalt und Andersdeutige Wortwiederholung in “Geistreich”)

Kunsthonig

die Kunst im Dritten Reich?

Verallgemeinerung

Secundum quid, Generalisierung

Es ist das Grün die Farbe der Natur.
Hör zu: Will ich als Mensch natürlich sein,
so ist mein Kleidchen grün und die Frisur.

Rot ist das Herz, das Feuer und die Liebe.
Wie herzlos, wenn ich hier bei rotem Schein
im Kalten und so lieblos stehenbliebe!

(in meinem Beispiel die zu rasche Ableitung von einem Klischee [deduktiver Fehlschluss]; Folgerung von Verallgemeinerung auf Spezielles: Grün ist die Farbe der Natur – ich trage ein grünes Kleid – folglich bin ich natürlich [“Grün ist die Farbe der Natur” ist ein Klischee: die Natur kennt viele andere Farben; nicht jedes Grün ist “natürlich”; das Tragen einer “natürlichen” Farbe macht mich noch lange nicht “natürlich”; eine “grüne Frisur” ist alles andere als “natürlich”]; andere Schlüsse und Fehlschlüsse ↪ Durch Stärkeres beweisen in “Alltag”, Beweiserschleichung und Unsinnige Folgerung in “Geistlos”)

Gruenes Haar

sei künstlich natürlich!

Beschreibende Angabe + Verbesserung

Apposition + Correctio (+ Parenthese)

Ich trug das grüne Hemd, das Polyester -,
da dachte ich an dich, mein Allerbester.
Und gestern an der Ampel da, der roten,
da hinten an dem Platze aller Toten,
der Helden der Nation, der große Platz,
(du hast ihn sicher schon gesehn, mein Schatz),
der Platz wo wir uns trafen, dieser breite -,
da ging ich rüber gestern, nein – ‘s war heute.

(Apposition [Appositio]: Beifügung, beigesetztes Hauptwort, ↪ auch Schmückendes Beiwerk in “Lyrisch” und Schmückender Zusatz in “Pompös”; verrückt ist die folgende Apposition vom Dorfrichter Adam aus Kleists Der zerbrochene Krug: “Geh, Margarete! / Gevatter Küster soll mir seine [Perücke] borgen; / In meine hätt die Katze heute morgen / Gejungt, das Schwein! Sie läge eingesäuet / Mir unterm Bette da, ich weiß nun schon.”; [“das Schwein” ist hier die Apposition und bezieht sich auf “die Katze”, die Adams Perücke angeblich “eingesaut” hat, indem sie darin Junge geboren hat; verrückt ist hier nicht nur, dass Adam die Katze ein Schwein nennt, sondern auch dass er “das Schwein” so weit nach hinten verrückt] ; Correctio [Korrektion]: Berichtigung, Korrektur [“da ging ich rüber gestern, nein – ‘s war heute”]; die “Berichtigung” ist natürlich meist eine beabsichtigte Steigerung, ↪ auch Korrigieren in “Spannung”; Parenthese [Parenthesis]: Einschub [“(du hast ihn sicher schon gesehn, mein Schatz)”]; vergleiche mit ↪ Einschub zwischen Präposition und Objekt in “Selt aber würdig”)

Jannings

Emil Jannings als Dorfrichter Adam in Der zerbrochene Krug, 1937

Warnen + üble Vorhersage

Paraenesis + Ominatio + Cataplexis

Ach, du bringst mich in Bedrängnis
mit dem giftig grünen Hut!
Ach, man wirft dich ins Gefängnis,
denn du bist ein Tunichtgut!
Ach, ein böses End wird’s geben!
Ach, du läufst ja stets bei Rot!
Du verlierst dein liebes Leben,
bringst mich noch um Haus und Brot!

Apokalypse

El Greco: Die Vision des heiligen Johannes, ~1610

(Warnen; üble Vorhersage: “KASSANDRA: O Gott! Weh! Qualen! / Auf reißt mich wieder der Begeistrung wilder Schmerz! / Im jähen Wirbel stürmen Sprüche wirr hervor! / Ha! seht ihr die dort sitzen vor der Tür, so still, / So jung, der Träume Truggestalten gleich zu schaun, / Zween Knaben gleich, als hätten Freunde sie gewürgt, / Die kleinen Hände mit des eignen Fleisches Kost, / Der eignen Eingeweide jammervollem Mahl / Gefüllt, davon der eigne Vater gessen hat?” [Aischylos Agamemnon übersetzt von Droysen];

Cassandra

Frederick Sandys: Cassandra, 1868

“modernere” Beispiele sind die drei Hexen in Shakespeares Macbeth oder die drei Precogs [Präkogs] in Philip K. Dicks Minority Report; ↪ auch Futur in “Wort”; Cataplexis: Strafe für böse Taten prophezeien: “CALIBAN. So böser Tau, als meine Mutter je / Von faulem Moor mit Rabenfedern strich, / Fall’ auf euch zwei! Ein Südwest blas’ euch an / Und deck’ euch ganz mit Schwären! / PROSPERO. Dafür, verlaß dich drauf, sollst du zu Nacht / In Krämpfen liegen, Seitenstiche haben, / Die dir den Odem hemmen; Igel sollen / Die Nachtzeit durch, wo sie sich rühren dürfen, An dir sich üben; zwicken soll dich’s dicht / Wie Honigzellen, jeder Zwick mehr stechen / Als Bienen, die sie baun.” [Shakespeares Der Sturm]; ↪ auch Strafandrohung in “Dramatisch” und Fluch in “Pompös”)

Caliban 3

Sir Frank Benson als Caliban, ~1895

Wiederholung + Beharrlichkeit

Epimone + Battologie

Dies Hemd ist toll, das ich hier trage,
mit dem ich mich hier auf die Straße wage.
Ein tolles Hemd ist das, es ist so grün,
drum musste ich dies tolle Hemd anziehn.

Ein Schein fällt rot aufs Hemd, auf das aparte,
von einem tollen Licht. Ich steh und warte.
Dann geh ich aber, etwas unverschämt,
mit meinem Hemd, mit diesem tollen Hemd.

(Beharrlichkeit ist toll, wirklich toll, wirklich; Epimone: Wiederholung; Battologie [Battologia]: unnötige Wiederholung, Battologie bezeichnet das unnötige Wiederholen, ein Wiederholen, das unnötig ist; vergleiche auch → Redundanz in “Geistlos”)

Toccata

der Anfang von Sergei Prokofjews Toccata op. 11

Modern Times

(Charlie Chaplin: Modern Times, 1936)

Aufschneiderei

Bomphiologia

Dies grüne Hemd aus Mussolin,
das schenkte mir mein Freund Schopin.
Die Schuhe hier sind von Russini,
die schenkte mir der Musselini.
Ich trug sie gestern in Schanghai.
Die Nichte Maos war dabei.
Die Ampeln da sind immer rot,
doch keiner kennt ein Gehverbot.
Einjeder stürzt nach vorn, kopfüber,
selbst ich persönlich ging hinüber.

(Aufschneiderei, eine außerordentlich seltene Figur: “Ich bin ein schöner und grundgescheiter und gerade richtig dicker Mann in meinen besten Jahren und der beste Karlsson der Welt in jeder Weise!” [Astrid Lindgren Karlsson vom Dach])

Hahn

Pablo Diego José Francisco de Paula Juan Nepomuceno María de los Remedios Cipriano de la Santísima Trinidad Martyr Patricio Clito Ruíz y Picasso: Hahn, 1938
[kann’s kaum glauben: fast wär mir eben der Name entfallen
– ich werde alt!]

Autorität zitierend

Apomnemonysis

“Grün ist Natur. Grün ist Genuss.”
Das sagte einst Konfuzius.
Drum trägt – so steht’s bei Epikur –
ein Kerl stets eine grüne Uhr.

“Dem Rotlicht trittst du in den Hintern.”
So las ich es bei den Korintern.

(Autorität zitierend: “Falstaff: […] Es gibt ein Ding, Heinrich, wovon du oftmals gehört hast, und das vielen in unserm Lande unter dem Namen Pech bekannt ist; dieses Pech, wie alte Schriftsteller aussagen, pflegt zu besudeln: so auch die Gesellschaft, die du hältst.” [Shakespeare Henry IV, erster Teil]; diese Art von Zitieren ist eher aus dem Gedächtnis; → auch Anekdote mit Zitat in “Geistlos”; vergleiche auch → Beispiel in “Alltag”)

Konfuzius

(Konfuzius), ~1770

Anekdote mit Zitat

Chrie

1.

Was sagte einst King Richard Three?
Wer hat es nicht gehört?
“A shirt! A shirt!” King Richard schrie,
“my Greenland for a shirt!”

Was wär ein Richard ohne Hemd?
Was wär er ohne Grün?
Er stünde nackend und verklemmt
Und wär kein bißchen kühn.

Wie eine Schnecke ohne Haus,
Ne Kröte ohne Schild,
So säh der arme Richard aus.
And soon he would be killed!

Drum wer den armen Richard hört,
Oh rasch, der rette ihn
Und geb ihm schnell sein eignes Shirt!
(And please make sure it’s green!)

2.

Herr Mao liebte einen Song,
der lindert seinen Zorn:
“Rot ist der Osten – Dong Fang Hong.
Hurra, führt uns nach vorn!”

Was wär ein Mao ohne Song?
Was wär er ohne Rot?
Er stünde schwach und gar nicht strong
Und wär am Ende tot.

Wie eine Hochzeit ohne Tanz
So lasch, so lahm und alt!
Wie eine Sonne ohne Glanz
So rosa nur, und kalt.

Drum siehst du einst ein Maobild,
Oh rasch, schrei deinen Song!
Und schrei ihn laut und schrei ihn wild:
“Rot Osten, Dong Fang Hong!”

(Chrie [Chreia]: Anekdote mit Zitat oder Akt; auch schematische Ausarbeitungen über einen Sinnspruch, → auch Beispiel in “Alltag” und Autorität zitierend in “Geistlos”)

Dong fang hong

Eigene Erfahrung

Martyria

Ein Hemd, das ist was Feines.
Ich selbst besitze eines,
sehr klein und grün kariert
und nur ganz leicht beschmiert.

Bei Rot geh nie hinüber!
Mir fuhr ‘ne Honda über
den linken großen Zeh.
Noch heute tut der weh!

Motorrad

(am “eigenen Leibe” erfahren; eigentlich Zeugnis [in der Religion “Glaubenszeugnis”]: “Das da von anfang war: das wir gehöret haben / das wir gesehen haben mit vnsern augen / das wir beschawet haben / vnd vnser Hende betastet haben / vom Wort des lebens / Vnd das Leben ist erschienen / vnd wir haben gesehen / vnd zeugen vnd verkündigen euch das Leben / das ewig ist / welches war bey dem Vater / vnd ist vns erschienen.” [1. Johannes 1]; vom Glaubenszeugnis führt der Weg dann zum Martyrium, dem “Blutzeugnis” des “Märtyrers”: “Du bist schön in der Marter, am Holz des Kreuzes und in den Linnen des
Grabes.” [aus einer eucharistischen Anbetung inspiriert von AugustinusVita Consecrata, 24]; → auch Beispiel in “Alltag”)

Johannes

Meister des Florian-Winkler-Epitaphs:
Martyrium des Heiligen Johannes, ~1477